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NACH ALLEN REGEL DER KUNST

Liebe Liebe Leserinnen und Leser,

wer nächtens viel mit dem Auto unterwegs ist, der kennt das: Auf bundesdeutschen Autobahnen gibt Papi regelmäßig den Rambo und schießt mit deutlich über 200 Sachen in den 50 Meter weit reichenden Lichtkegel seines Abblendlichts hinein, wild aufblendend, wenn ein anderer, nur etwas weniger zu schneller Grenzdebiler den Wechsel von der mittleren auf die linke Spur wagt.

Zur Erinnerung: Bei 200 km/h legt ein Fahrzeug pro Sekunde 55,56 Meter zurück. Eine Sekunde aber entspricht der durchschnittlichen Reaktionszeit eines wachen, aufmerksamen Fahrers. Der Bremsweg beträgt, wiederum optimale Bedingungen vorausgesetzt, 237,42 Meter, der Anhalteweg somit 292,98 Meter. In der Praxis heißt das:

Der Lenker  eines mit 200 km/h fahrenden Kfz erreicht ein in den Scheinwerferkegel seines Fahrzeugs eintretendes Hindernis recht genau am Ende seiner Reaktionszeit, de facto also noch bevor er mit dem Bremsen überhaupt begonnen hat. Was auf die Insassen des Fahrzeugs dann zukommt, entspricht je nach Art des Hindernisses rechnerisch dann recht genau dem, was nach einem Sprung von sieben Zentimeter oberhalb einer der beiden Turmspitzen des Kölner Doms zu erwarten wäre, wobei man sich und die lieben Mitreisenden im Pkw um das wirklich einmalige Erlebnis eines gut 5,6 Sekunden
währenden freien Falls brächte (t² = (2 x s) / a).

Der Parcours, den Notenbanken und Regierungen in den letzten beiden Jahren absolviert haben, weist erstaunliche Parallelen zu dieser Berechnung auf, vor allem was die Ausgangsbedingung betrifft: Vollgasfahrt ins Dunkle. Verkompliziert wird die Sachlage dadurch, dass keiner der Akteure weiß, ob es im Zweifelsfalle überhaupt eine Bremse gibt, wie sie aussieht und ob es so etwas wie eine Reaktionszeit überhaupt existiert.

Eine vergleichbare, wenn auch deutlich langsamere Blindfahrt der Währungshüter und politisch Verantwortlichen hat es zuletzt vor der Großen Depression des letzten Jahrhunderts gegeben, an die bis jetzt vor allem die Arbeitslosenquote in den USA erinnert, aber auch die Anzahl notleidender Kredite. Der auf tiefem Rezessionsniveau verharrende ECRI-Frühindikator für die USA und der in den freien Fall übergegangene OECD-Wirtschaftsindikator für die Vereinigten Staaten trotz all der irrwitzigen Liquiditätsinjektionen runden das düstere Bild ab.

Die Anleihemärkte scheinen dieses Szenario verstanden zu haben, die Aktienmärkte (noch) nicht. Und dennoch beschloss die amerikanische Notenbank am vergangenen Dienstag, das Gaspedal noch weiter durchzutreten. Als größtes Risiko für die US-Wirtschaft machte sie dabei den Arbeitsmarkt aus, für den sie von einer Erwerbslosenquote von 9,5 Prozent ausgeht. Was angesichts einer tatsächlichen Arbeitslosenquote von unverändert knapp 22 Prozent nicht mehr mit dem Stempel „schöngefärbt“ wegkommt. Wie aber sollte man mit solchen abstrusen Wirtschaftsdaten umgehen?

KONSENS DER WEGSEHER BRÖCKELT

Als Börsianer kennt man auch das: Hat man sich unter all den vielen, höchst unterschiedlichen Interpretationen des jeweils aktuellen Marktgeschehens endlich diejenigen herausgesucht, die vermeintlich am logischsten bzw. der Unlogik der Börse angemessen erscheinen, wird es fortan mit der psychologischen Bereitschaft zum Zusammenfalten dieser Argumente ähnlich schwierig wie das Zusammenlegen eines Stadtplans oder eines eben mal aus der Packung genommenen, aber nicht passenden Oberhemdes.

Überhaupt scheint es vielen Anlegern völlig unverständlich, wie Volkswirte, Analysten und Banker aus ein und demselben Datenmaterial so völlig gegensätzliche Schlüsse ziehen können. Dass gerade die Banken bei ihren alljährlichen Jahresprognosen mit schönster Regelmäßigkeit so krass die Wirklichkeit verfehlen, darf nicht überbewertet werden: Niemand kann in die Zukunft sehen, schon einmal gar nicht in Zeiten, in denen das ökonomisch bis jetzt „Undenkbare“ Realität geworden ist und für die es keinerlei Präzedenzfall gibt.

Anders sieht es mit kurzfristigeren Prognosen aus, wie zum Beispiel mit der Wirtschaftserwartung der amerikanischen Notenbank. Hier erwies sich am vergangenen Dienstag erneut, dass die Federal Reserve die konjunkturelle Erholung in den USA erheblich überschätzt hatte und sich zu einer Anpassung ihrer Prognosen nach unten veranlasst sah.

Womit sich nicht nur die Skeptiker unter den Anlegern zwingend mit der Frage auseinandersetzen müssen, was all die in die Billionen reichenden Kapitalmaßnahmen der Zentralbanken und Regierungen und die auf einem historischen Allzeit-Tief verharrenden Leitzinsen denn eigentlich bis jetzt gebracht haben, einmal abgesehen von der bis jetzt geglückten Abwendung eines wirtschaftlichen Super-GAU.

Langfristig, und das ist das Gute, kann sich der Aktienmarkt nicht gegen die Fundamentals stemmen, selbst wenn sie noch so geschickt verpackt werden. Apropos:

NACH ALLEN REGELN DER KUNST

Ob das, was Verpackungskünstler Christo da so treibt, als Kunst zu bezeichnen ist, sollen andere entscheiden. Und ob sich Christo immer noch als Künstler bezeichnen lassen will, nachdem Helene Hegemann und Lena auch in diesen Status erhoben wurden, muss er wissen.

Christos neuestes  Projekt, geplant noch zusammen mit seiner verstorbenen Frau Jeanne Claude, fertig gestellt voraussichtlich im Sommer 2013, ist die teilweise Verhüllung des Arkansas River im US-Bundesstaat Colorado, von dessen Gesamtlänge von 2.333 km allerdings nur rund sechs Kilometer mit Stoffbahnen überdeckt werden sollen.

Sollte man mir den Auftrag erteilen, die Auswirkungen dieser auf zwei Wochen begrenzten Aktion zu skizzieren, würde ich dazu eine DIN A4-Seite benötigen, auf Basis derer sich Befürworter und Skeptiker des Vorhabens über alle wichtigen Belange informieren könnten.

Das „Bureau of Land Management Colorado“ hat sich über das Projekt ebenfalls ausgelassen. Und dabei 2.000 Blatt Papier gefüllt. Falls Sie nicht wissen, was Sie im Urlaub machen sollen, möchte ich Ihnen dieses Kunstwerk internationaler Beamtenkunst wärmstens empfehlen.

Dem Arkansas River dürfte es indes ziemlich egal sein, ob man für 14 Tage irgendwo in lichter Höhe ein paar Stofflappen über ihm aufspannt oder nicht. Und den Konjunktur- und Unternehmensdaten dürfte es ebenfalls gleichgültig sein, wie man sie verpackt und was nach der Verpackung noch von ihnen sichtbar ist.

Jüngstes Beispiel: Die am Dienstag veröffentlichten US-Daten zur Produktivität, von denen die Financial Times Deutschland tags drauf schrieb, dass weder sie „noch die nach allen Regeln der Kunst frisierten Firmengewinne sonderlich ernst zu nehmen sind“. Der Witz dabei:

Alle, wirklich alle Anleger können wissen, dass sie nach Strich und Faden an der Nase herum geführt werden, aber sie wollen die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen, solange die Kurse an den Aktienmärkten steigen und die immer konjunkturzyklischen Wirtschaftsprognosen nach oben weisen. Die gestrigen Aussagen der amerikanischen Notenbank und die durch die Daten erzwungene Wiederaufnahme umfangreicher Stützungsmaßnahmen könnten geeignet sein, die rosarote Brille der Anleger deutlich zu verfärben. D. h.:

Nachdem die anfänglich mit regelrechter Euphorie aufgenommenen Quartalsberichte z. B. von Alcoa und Intel den Kursen keinen nachhaltigen Auftrieb verleihen konnten, dürften die Anleger nach der jetzt auslaufenden Earnings Season so weit für negative Konjunkturdaten sensibilisiert sein, dass eine Abwärtsbewegung der Kurse um ein Vielfaches größer ist als eine Fortsetzung der „Tun wir so, als hätten wir es nicht bemerkt“-Rallye!

CHART-ALARM

Das wir diesem Zeitpunkt bereits sehr, sehr nahe gekommen sind, fiel mir bei meinem allwöchentlichen Streifzug durch die Charts der wichtigsten Aktienindizes, Zinsbarometer, Währungs-Crossrates und Rohstoffe auf. Eine äußerst entspannende Übung übrigens: Der Computer blättert die Charts einen nach dem anderen durch, während ich mit einem Gläschen Rotwein vor den Monitoren sitze und mir ab und an ein paar Notizen mache.

In den vergangenen Wochen war mir aufgefallen, dass die Anzahl kreditfinanzierter Aktienkäufe in den USA soeben erstmals seit März 2009 wieder eine markante Abwärtswende vollzogen hatte. Wie Sie (vielleicht) wissen, schätze ich diesen Indikator sehr, da er keine durch eine Umfrage herbeigeführte Sentimentaufnahme ist, sondern ein direkt aus dem Marktverhalten der Anleger extrahierter Indikator, der seit 2000 mit nicht mehr zu übertreffender Präzision alle vier großen Trendwenden der Börsen angezeigt hat. Nun also wieder abwärts!

Neueste „Entdeckung“: Die Chinesen scheinen sich – nach verbalen Vorankündigungen seit März letzten Jahres – nun tatsächlich sukzessive aus dem Dollar zurück zu ziehen. Denn erstmals in dem mir zur Verfügung stehenden 25jährigen Datenmaterial zeigt der Chart der größtenteils im Greenback gehaltenen Devisenreserven Chinas eine Abwärtsbewegung! Da Peking aufgrund seiner faktisch immer noch existierenden Währungsanbindung an den Dollar nicht das gleiche traurige Schicksal wie Japan erleiden kann (25 Prozent währungsbedingte Kursverluste seiner US-Anleihen in den letzten drei Jahren), muss China folgerichtig befürchten, dass die USA ihren Schuldendienst irgendwann überhaupt nicht mehr bedienen können.

Diesen beiden ins „Fundamentale“ hinein spielenden Charts gesellen sich hoch interessante langfristige Charts der Aktienindizes, diverser Rohstoffe und einiger Wirtschaftsindikatoren zu. Das Interessanteste, ohne jeden literarischen Anspruch aufgelistet:

Der Baltic Dry Frachtratenindex, ein mittelbares Messinstrument für die weltweite Nachfrage nach Basisrohstoffen, hat sich seit seinem Maihoch mehr als halbiert.

Der MSCI World, eine Art „Super-Aktienindex“, in dem die wichtigsten Indizes rund um den Globus zusammengefasst sind, hat im Wochenchart ein neues Verkaufssignal abgeliefert.

Der NASDAQ 100 und der TecDAX weisen – ebenfalls auf Wochenbasis – klare Verkaufssignale auf. In der Vergangenheit sind diese technologielastigen Indizes den Blue Chips oftmals vorangelaufen.

Der Nikkei 225 dürfte für eine Baisse-Spekulation hoch interessant werden, sobald der Kurs unter 9.000 schließt und damit eine wichtige Chartunterstützung durchbricht.

In diversen Aktienindizes finden sich auf Tagesbasis charttechnisch mehrwöchige, zumeist regelkonform umsatzbestätigte Aufwärtswimpel bzw. –flaggen. D. h: Gehen diese Indizes jetzt noch einmal mal unten, entstehen starke, auch mittelfristig relevante Verkaufssignale.

So weit, so gut. Es sieht so aus, als ob die seit Jahresbeginn herrschende volatile Seitwärtsbewegung nun nach unten aufgelöst wurde. Irrigerweise gehen die meisten Anleger davon aus, dass die Aktienindizes seit Neujahr ein sattes Plus zuwege gebracht haben. Fakt ist hingegen, dass weit über 80 Prozent aller internationalen Aktienbarometer seit Jahresstart ein teilweise beträchtliches Minus zu verbuchen haben.

Weitet sich dieses Minus aus – und die in dieser Kolumne genannten Argumente sprechen dafür – sollten die nun schon so lange in der Warteschleife kreisenden Bären bald richtig gute Laune bekommen. Meine zum Beispel.                                      

Viel Erfolg und beste Grüße!
Axel Retz

Der Verfasser ist Herausgeber der Seite www.private-profits.de
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